Familiensache
Bald gibt es Inklusion im Freiämter Handball – am Ursprung steht der Wohler Stephan Jaeggi
Sohn Silvan hat das Downsyndrom. Und er möchte auch Handball spielen, wie die ganze Familie Jaeggi. Bislang war das aber nicht möglich. Bis Vater Stephan Jaeggi eine Vision hat, die er vorantreibt. Nun sind Handball Wohlen, der TV Muri und der HC Mutschellen kurz vor der Lancierung der Inklusion. «Handball ist für alle da», sagt Stephan Jaeggi.
Stefan Sprenger, Wohler Anzeiger
«Hör mal, wer da hämmert», der «Bergdoktor» oder «King of Queens». Diese TV-Klassiker mag Silvan genauso wie die Musik von Michael Jackson, Baschi oder die Titelmusik des Films «Top Gun». Oft spielt er aber auch für sich allein. Oder er blättert in Zeitschriften und Fotoalben. Der 15-Jährige ist sehr offen und kontaktfreudig. Er hat eine Chromosomenstörung, die zu intellektueller Behinderung und körperlichen Anomalien führt. Anders gesagt: Silvan hat Trisomie 21, das Downsyndrom. Sein Vater Stephan Jaeggi sagt: «Er ist Herausforderung und Bereicherung in einem.» Abends, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kommt, ist er innert weniger Sekunden sofort woanders. «Silvan holt mich auf den Boden zurück. Er lässt mich Dinge schätzen im Leben.» Und es ist viel Liebe zu spüren, wenn der Papa seinen Sohn auf den Schoss nimmt und mit ihm spielt.
Ganze Familie liebt Handball
Die grösste Leidenschaft von Silvan ist Handball. Und das hat er geerbt. Rückblick in die 90er- und frühen 2000er-Jahre. Stephan Jaeggi lehnt sich andächtig an den Pfosten, beobachtet die gegnerischen Spieler. Er prescht nach vorne, schliesst die Augen und macht sich gross und breit. Der Handballgoalie wehrt den Schuss des Gegners ab. «Jaaaaa», schreit er lauthals. «Steff» Jaeggi war über ein Jahrzehnt lang aus dem «Eis» der Wohler Handballer nicht mehr wegzudenken. Ein Unikat, auf und neben dem Feld. Ein hilfsbereiter und humorvoller Kerl, der immer einen Spruch auf den Lippen hat. Ein positiver Goalie, der «en chliine Egge ab het», wie man in Handballerkreisen so schön sagt. Und treu, denn selbst heute noch ist er mit dem Verein verbunden – zum Beispiel als Grillmeister bei den Heimspielen.
Die Handballpassion hat er weitergegeben. So spielen auch seine Töchter Ramona und Fabienne bei Handball Wohlen. Ramona macht gerade eine Pause, Fabienne spielt bei den U18-Inter-Juniorinnen. Mutter Manuela gehört seit Jahren zum Beizli-Team bei den Heimspielen. Und auch der Jüngste der Familie ist begeistert vom harzigen Ball. Silvan, 15 Jahre jung, antwortet auf die Frage, welchen Sport er am liebsten mag, sofort mit: «Handball, klar.» Silvan besuchte eine Zeit lang das Kinderhandball in Wohlen. «Die Trainerinnen und die Kinder haben ihn bestens aufgenommen und akzeptiert. Man gab sich enorm viel Mühe», erklärt der Vater. Doch je älter die Kinder wurden, desto besser wurde ihr Spielniveau – und desto schwieriger wurden die Abläufe für Silvan. Seither geht er nicht mehr ins Handball, ist aber immer an den Spielen in der Hofmattenhalle dabei und feuert seine Schwestern oder die erste Mannschaft an. Und er macht dies mit einer riesigen Euphorie und Spass. Es ist klar, dass sich die Familie wünscht, dass auch Silvan diesen Sport trainieren darf.
Viele Fragen, viele Ängste
Silvan ist ein lebensfroher Kerl. Am 13. Dezember 2008 kam er zur Welt. Es war ein Tag, der das Leben der Familie Jaeggi verändert hat. Für alle war es eine Überraschung, als die Ärzte mitteilten, dass das Neugeborene Trisomie 21 hat. «Es hat uns den Boden unter den Füssen weggezogen», sagt der Vater. Es folgten Tage und Wochen mit vielen offenen Fragen. Mit vielen Ängsten. Silvan musste sich zahlreichen Untersuchungen stellen, war eine Zeit lang auf der Intensivstation. Die Familie musste mit der neuen Situation zurechtkommen, dass nun ein Kind mit einer Beeinträchtigung in ihrem Leben ist. Die ersten Jahre waren hart. Silvan hat einen epileptischen Anfall, eine Lungenentzündung. Diese schwierige Zeit meisterte die Familie auch mit der Hilfe von Familie und Freunden. Doch wie das die Familie meistert, ist eindrücklich. Stark. Voller Geduld und Liebe.
Aus Problemen werden Herausforderungen
Der Vater erzählt, dass Silvan die Familie zusammengeschweisst hat. Er kramt ein Fotoalbum aus früheren Tagen hervor. Der erste Urlaub. Der erste Coiffeurbesuch. Oder als der Samichlaus zur Familie nach Hause kommt. «Seine beiden Schwestern mussten Einschränkungen in Kauf nehmen. Silvan benötigte viel Zeit.» Doch die Familie hält zusammen. Aus einem vermeintlichen Problem wird eine Herausforderung, die man meistert und mit positiven Erinnerungen füllt. Die Töchter werden von Arbeitgebern, Freunden und auch in Handballkreisen als sehr aufmerksam und hilfsbereit wahrgenommen. «Das haben sie auch dank Silvan gelernt.»
Silvan hat sich gemacht. Er geht seinen Weg. «Er macht das prima», meint der Papa und lächelt ihn an. Silvan besucht die Heilpädagogische Sonderschule in Wohlen, nicht unweit vom Wohnort der Familie. Silvan liebt es, sich zu bewegen. Judo, Schwimmen und natürlich Handball. Es ist wie ein Stichwort für ihn, denn sofort holt er einen Ball und wirft ihn in der Stube herum. «Nicht so fest, Silvan», ruft der Vater, der Angst hat, dass etwas in die Brüche geht. Doch Silvan hat alles im Griff und weiss, wie man mit dem Ball umgeht. Und bald darf er wieder trainieren. Mit anderen Menschen, die eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung haben.
Der ganze Verein steht hinter ihm und seiner Idee
Im ganzen Freiamt soll dies bald möglich sein. Initiant ist Stephan Jaeggi. Vor rund zwei Jahren hört er von der Inklusion. Der Handball-Verband treibt in den letzten Jahren viele Projekte voran, um den Handballsport für alle Menschen zugänglich zu machen. Die Vision von Jaeggi: Auch sein Verein Handball Wohlen soll mitmachen. Doch er ist unsicher, wie das Thema ankommt. Er stellt einen Antrag, den er an der GV des Vereins im Juni vor 50 Menschen vorstellt. Es wird emotional. Die Unsicherheit von Jaeggi ist superschnell verflogen. Denn schnell merkt er: Der ganze Verein steht hinter ihm. «Keine Frage. Tolle Idee. Das stellen wir auf die Beine», so war der Tenor der Mitglieder von Handball Wohlen. Alle sind begeistert. Präsident Andreas Stierli signalisiert sofort vollste Unterstützung. «Ich hatte Hühnerhaut. Die Reaktionen waren positiv, emotional, überwältigend», sagt Stephan Jaeggi, der Handball Wohlen nicht als Verein, sondern «als Familie» bezeichnet.
Start im neuen Jahr
Kurz nach dieser GV finden Gespräche mit dem HC Mutschellen und dem TV Muri statt. Auch die beiden anderen Handballvereine im Freiamt sind begeistert und gerne mit dabei. Die Inklusion wird nun im ganzen Freiamt vorangetrieben. Im neuen Jahr gibt es ein erstes Schnuppertraining, später sollen regelmässig Trainings mit beeinträchtigten Menschen angeboten werden. 2024 wird die Inklusion hoffentlich durchstarten. Jaeggi wird in den Trainings unterstützen. Sohn Silvan ist auch dabei. «Menschen mit einer Beeinträchtigung sollen Handball spielen dürfen und können», meint er. Denn «Handball ist für alle da».
Inklusion im Freiämter Handball
Muri, Mutschellen und Wohlen spannen für dieses Projekt zusammen
Inklusion. Ein komplexes Wort mit wunderbarer Bedeutung. Es bedeutet: Alle dürfen mitmachen, jeder gehört dazu. Es ist ein Gewinn für die Gesellschaft im Allgemeinen.
Der Schweizerische Handballverband (SHV) intensiviert die Inklusion im Sport. Kinder, Jugendliche und Erwachsene sollen einen einfachen Zugang zum Handball haben und sich ungeachtet ihrer Beeinträchtigung zugehörig, akzeptiert und wertgeschätzt fühlen. Dem SHV ist die Inklusion ein grosses Anliegen. Man gründete die «Together-League» (Turnierform) und seit Neustem die «UnifiedLeague» (Meisterschaft), wo Menschen mit und ohne Beeinträchtigung gegeneinander spielen. Der neue Titelsponsor Sulzer soll der Bewegung noch mehr Aufmerksamkeit schenken. Mittelfristig will der Verband die Anzahl Teams der Liga verdoppeln und an den Weltspielen 2027 ein offizielles Unified-Team im Handball stellen.
Auch das Handball-Freiamt will seinen Beitrag leisten. Der Impuls erfolgte durch Stephan Jaeggi, Mitglied von Handball Wohlen. Seine Idee einer Inklusion in der Region findet grossen Anklang im eigenen Verein. Und auch der HC Mutschellen und der TV Muri sind mit Begeisterung dabei.
Delia Dünser vom SHV: «Eine Heimat geben»
Die drei Vereine spannen nun für ein gemeinsames Ziel zusammen. Spielend will man Grenzen überwinden. Nun ist man auf der Suche nach Menschen aus der Region mit Beeinträchtigung, die gerne Handball spielen würden und bei diesem Projekt dabei sind. Ein erstes Training ist für den Frühling vorgesehen und soll danach regelmässig stattfinden.
Der nationale Handballverband hat dies mitgekriegt – und freut sich riesig. Präsident Pascal Jenny (ein Wohler) ist stolz auf den Entscheid. Delia Dünser, Leiterin Partizipation beim SHV, sagt: «Die Entwicklung von Inklusion im Handballsport freut mich, es ist ein wichtiger Schritt für den Schweizer Handball und ein tolles Projekt, weil es uns ermöglicht, Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung spielerisch an den Handball heranzuführen und ihnen eine sportliche Heimat zu geben», so Delia Dünser.
Superstar Andy Schmid: «Eindrücklich»
Und auch der grösste Schweizer Handball-Superstar hat die Neuigkeiten aus dem Freiamt gehört. Andy Schmid sagt: «Ich war schon zweimal bei einem Inklusionstag des SHV dabei. Die ehrliche Freude und gleichzeitig der Ehrgeiz für unseren Sport waren eindrücklich. Schön, dass auch die Handballvereine aus Wohlen, Muri und Mutschellen bei dieser tollen Sache dabei sind.» --spr